Oli

Aug 3, 2025

Luft - Erde

Eine Frage des Ausgleichs

Es ist Mittags, ich bin schon kurz davor, den Tag mit 10 km Fahrt und einem ruhigen Campingplatz am See für beendet zu erklären, da kommt eine Warmshowers Zusage mit einem Konzert am Strand von Vincent. Das klingt doch super, ich habe ein Ziel. Ich muss nur eine Nacht überbrücken und mich erwartet ein sicherer Schlafplatz, eine Dusche und ein Konzert. Perfekt.
Also zwinge ich meine hinkende Motivation dazu, weiter zu radeln.
 
Während ich so vor mich hin fahre, raschelt es hinter mir. Ich verlier immer mal wieder irgendwelche Sachen und habe Angst, dass dieses Mal mein Baguette fällig ist, das ich auf meinen Gepäckträger geklemmt habe.
Es ist nur ein Fahrradfahrer und ich verlagere meinen nicht immer gradlinigen Fahrstil nach rechts, dass er vorbei kommt.
Mit einem fröhlichen Lachen taucht ein Kerl in meinem Alter auf. Mit beiden Händen knabbert er an einem Baguette. Das Lenkrad scheint bei seinem Fahrrad nur als Dekoration zu dienen. «Don’t worry, I didn’t steal your Baguette» sagt er grinsend.
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Seine Ausrüstung, seine Statur und sein Fahrstil weisen eindeutig darauf hin, dass Sport zu seinem Alltag gehört. Wir kommen schnell ins Gespräch und meine Vermutung bestätigt sich.
Von klein auf beschäftigt Oli sich mit sämtlichen Sportarten, die ich mir in den schweizer Bergen vorstellen kann. Er ist 29, kommt aus einem kleinen Dorf in der (deutschsprachigen) Schweiz und hat in den letzten Jahren als Lehrer mit Migrant:innen gearbeitet.
Auch wenn er seinen Job liebt, kann er wohl nicht 30 werden, ohne vorher noch eine große Tour gemacht zu haben. Er plant mehrere Monate unterwegs zu sein, wobei er sich diverse Ziele in irgendwelchen atemberaubenden Gegenden zum Klettern und Wandern setzt. Außerdem stehen Surfen und Radrennen auf seiner Liste. Er ist erst seit gut einer Woche unterwegs, wobei er in den ersten Tagen an die 200 km pro Tag zurück legte. Ich sehe, welchen Reiz das geben kann - das Mögliche zu erforschen und die eigenen Grenzen auszutesten und merke gerade immer mehr, dass mir in den letzten Monaten mein Logos ein bisschen abhanden gekommen ist und es mir immer mehr fehlt.
Die Frage ist nur, wie passt es zu meinen Plänen…
Ich vermute, dass ein Sinn seiner Reise ist, seine Grenzen vor der 30 noch einmal auszureizen. Auch wenn ich es nicht lassen kann, ihm zu erklären, dass diese Alterssache überbewertet wird, finde ich es eigentlich gut, sich Punkte in seinem Leben zu setzen, die einen dazu motivieren, die Komfortzone zu verlassen und die aktuellen Grenzen auszuchecken und zu sprengen.
Es ist 12 Uhr und Oli hat bereits 110 km hinter sich. Bei mir sind es: ein gemütliches Frühstück, eine Stunde verzweifeln und nachdenken, eine Stunde Trompete, eine Stunde mit Miren telefonieren und 10 km Strecke.
Doch neben Oli fahre ich plötzlich in einem Tempo, dass ich so von mir gar nicht kenne. Ich bin überrascht und freue mich, wie schnell ich Strecke zurück lege.
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Nach 2 Stunden kommen wir an einem - für die touristischen Verhältnisse hier - fast schon idyllischen See vorbei und ich nutze die Gelegenheit, uns für eine Essens-Bade-Pause zu bremsen.
Oli stellt sich als eindeutiger Luft-Erd-Charakter heraus. Die Suche nach Freiheit und die ständige Bereitschaft, Neues zu entdecken. Seine Erde gibt ihm etwas Grundfestes, ein sicheres Vertrauen, Routinen. In seinem Denken ist er klar und strukturiert. Ich merke, dass er trotz seiner feinfühligen Art und seinem großen Herzen für Mensch und Natur, eine Distanz zu diesen Emotionen herstellen kann, die sich auch in einer sehr klaren Kommunikation zeigen. Das, gepaart mit dem Logos, das im Moment eindeutig Kern seiner Tour ist, ermöglichen es ihm, gut voran zu kommen.
Wir haben das gleiche Etappenziel und so freue ich mich für diese Nacht über die Sicherheit einer zweiten Person. Es ist doch etwas anderes, ohne Pfefferspray am Kopfende schlafen zu können oder das Überzelt wegzulassen, das ich sonst auch bei den Wärmsten Temperaturen drüber spanne, dass mann nicht sieht, dass eine Frau in diesem Zelt schläft.
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Routinen

Oli hat ganz klare Routinen, die für ihn so selbstverständlich sind, dass er wahrscheinlich nur lachen kann, wenn er weiß, wie beeindruckt ich davon bin. Seit meinem Umzug habe ich keine einzige Routine mehr und nachdem die Tour der Höhepunkt meiner Feuer-Revolution ist, merke ich, wie mein Bedürfnis nach Erde wieder wächst.
Routinen geben uns halt. Gewissheit. Vertrauen. Außerdem entlastet es unser Gehirn. Durch die Automatisierung fordern diese Handlungen keine bewusste Entscheidung mehr und wir haben mehr mentale Kapazitäten für andere Dinge.
Also putze ich von nun an Zähne bevor ich los fahre und nicht dann, wenn mich gerade die Zahnbürste anlacht. Ich dehne mich abends, wasche nach dem Essen direkt meinen Topf ab und trinke regelmäßig und viel Wasser.
 

Soziale Interaktionen

Zum Frühstück erreichen wir das schöne Örtchen Contis und setzen uns in ein belebtes Kaffe. Wir kommen schnell mit den Nachbartischen ins Gespräch, aber nach einem gemütlichen Kaffee merke ich, dass es Oli weiter zieht. Alleine hätte ich hier wahrscheinlich noch das Gespräch mit dem Nachbartischen vertieft oder Trompete gespielt aber in diesem Moment, bin ich dankbar über den Anschub und wir ziehen zusammen weiter.
 
Er fragt mich, warum ich keine Sonnenbrille trage. Ich hasse Sonnenbrillen. Sonnenbrillen distanzieren einen Blickkontakt.
Ich grüße gerne die mir entgegenkommenden Fahrradfahrer:innen. Es ist total spannend, zu beobachten, wie unterschiedlich die Leute unterwegs sind. Am witzigsten finde ich diese todernsen, super sportlich-ambitionierten Männer. Das Ziel im Visier. Komme was wolle. Das Grüßen mit ihnen fühlt sich meistens sehr cool an. Der Blick bleibt weiter gesenkt aber es kommt eine sehr klare, routinierte Handbewegung, die mir signalisiert, dass er mich gesehen hat und dass wir uns verstehen. Je nach Stimmung, kommt von mir ein ebenso ernstes Nicken rüber, oder ich versuche sie doch von einem fröhlichen «Bonjoour» zu überzeugen. Meistens vergebens.
Ich vermute, dass Oli nicht selten einer von ihnen ist. Jedenfalls stellt er begeistert fest, wie schön es ist, mit einem Lächeln zu grüßen und nimmt sich vor, das jetzt öfter zu tun.
Ich freue mich, dass er das Wunder eines Lächelns erlebt und frage mich trotzdem, ob ich für die Gesundheit meiner Augen, vielleicht mal meine Prioritäten überdenken sollte..
 

Fahrradpflege

Während das Hauptthema in meinem Kopf die menschliche Natur und all ihre Emotionen und Handlungen sind, macht mir Oli klar, dass ich auch mal über meine Kette sinnieren könnte. Das erste Mal putze und öle ich meine Kette. Ich fühle mich wie ein Profi und bin stolz wie ein Kind.
Außerdem wird mir klar, dass ich meine 2x9 Gangschaltung überwiegend als 1x9 Gangschaltung nutze und davon weder die Kette noch meine Beine begeistert sind. 2x9 scheint für mein Gehirn unglaublich komplex - und ich gebe zu, ich habe es vermieden, mich damit auseinander zu setzen. In den darauffolgenden Tagen versuche ich mich in meiner Gangschaltung zu orientieren und werde mit einigen Knoten in meinem Denken konfrontiert. Aber es wird…
 

Abschied

Es ist nachmittags und unsere Routen befinden sich an ihrem Scheidepunkt.
Seit vormittags sind wir mit gut 20 km/h gefahren. Eine Frühstückspause, eine Snackpause, eine Mittagspause. Dazwischen konsequentes Fahren. Wir sind beide sichtlich glücklich über die zwei Tage Abwechslung. Oli stellt fest, dass es «so entspannt ja ich auch richtig Spaß machen kann.» Er nennt es «aktive Erholung»…
Und ich habe ein Logos in mir wieder entdeckt, dass ich in den letzten Monaten ein wenig verloren hatte.
Aber uns beiden ist klar, dass unsere Touren einen unterschiedlichen Sinn verfolgen, auch wenn mir meiner in diesem Moment unklarer ist, als je zuvor.
Also verabschieden wir uns schweren Herzens und ich überlege, wie ich mich alleine aus meinem Kriech-Modus bekomme.
 
Das tolle an zwischenmenschlichen Beziehungen sind die Unterschiedlichkeiten. Wenn Menschen sich begegnen und mit ihrem unterschiedlichen Denken und Sein zusammenkommen, können Dinge entstehen, die größer sind, als jedes einzelne Individuum.
Da ich mich hier aber auf einer Solotour befinde und ich meine Freunde noch nicht zu einer Trompetenfahrradtour bewegen kann, muss ich jetzt wohl irgendwie selbst ein bisschen Klarheit und Struktur in mir finden.
 

Tour

Während Klarheit und Struktur etwas sind, das wahrscheinlich niemals zu meinen Stärken gehören wird, trage ich sehr wohl ein starkes Logos in mir (wenn ich es schaffe hinter die Zweifel zu kommen). Die Frage ist nun: wie aktiviere ich es?
Die Kraft von Logos braucht ein Ziel. Die Basis von Logos ist die Entschlossenheit.

Aber was ist mein Ziel? Wofür die Entschlossenheit?

Mein Ziel sind definitiv nicht die Kilometer.
Ich habe nun alles mögliche ausprobiert. Viel radeln, wenig radeln, Berge, Menschen, alleine sein, Stadt, Land, Straßenmusik, für mich alleine spielen, mehr Trompete, mehr Radeln, mehr schreiben….

Was ist denn nun der Sinn meiner Tour und wie soll es weiter gehen??

Menschen. Ich will Menschen begegnen (dazu zähle auch ich selbst). Ich will die Vielseitigkeit der Menschlichkeit verstehen (soweit man sie verstehen kann…). In den Massen des Tourismus an der Westküste kann ich weder anderen Menschen, noch mir selbst begegnen. Zumindest seltenst in der Intensität und Ehrlichkeit, in der es mein Herz sich wünscht.
 

Wie passt hier Logos rein?

  1. Ich höre auf am Atlantik rumzudümpeln.
Auch wenn ich seit Jahren davon träume, einen intensiven Surfurlaub zu machen, muss ich einsehen, dass es wohl nicht auf dieser Reise sein wird. Ich muss weg von dem Tourismus und rein in die Natur.
 
  1. Wenn ich fahre, dann fahre ich.
Ich fordere ein Tempo von mir ein, von dem ich jetzt weiß, dass es möglich ist. Ich fahre längere Strecken ohne Pausen und ich gehe zumindest ein bisschen mehr in den ernsten Modus der super-sportlichen Typen, die mit einer coolen Handbewegung grüßen. Weil ich mich erst nehme.
 
  1. Das Ziel im Blick
Ziele können wie ein unsichtbares Seil dienen, dass unsere Aufmerksamkeit bündelt und uns in die Zukunft zieht. Meine Ziele ändern sich zwar stündlich aber dennoch: diese Stundenziele können bereits helfen, dass ich mich nicht durch jeden Grashalm von meinem Weg ablenken lasse. Ob ich jetzt Trompete spiele oder radel, in dem Moment wo das Ziel definiert ist, verankere ich es in meinem Bewusstsein und lasse es nicht mehr los.
 
  1. Klarheit des Sinns meiner Tour
Radeln - Menschen - Trompete. Neugierig sein, offen sein, zuhören, verarbeiten. Erforschen, was ich fühle - was die Menschen fühlen, mit denen ich rede - und dafür Worte und Musik finden.
 

Trompete

Es ist hier das gleiche wie mit der Reise. Seit einigen Monaten fehlt mir das Wofür. Wofür will ich mich reinhängen? Mein langfristiges Ziel steht.
Aber dennoch:
Warum will ich eine gute Trompeterin sein ? Warum will ich mir immer und immer wieder die Arbeit machen um besser und besser zu werden ? Wofür ??
 
Oli gibt mir noch einen Song mit auf den Weg und dieser Song trägt genau die Antwort: Fever to the Form - Nick Mulvey. Dem Brodeln eine Form geben. Das scheinbar Verrückte in etwas greifbares, klares verwandeln.
 

Die Welt der Emotionen, die ich erforsche:

Ich will sie teilen. Mein Leben lang schon werde ich von einem Gehirn überwältigt, das einfach nicht aufhört zu denken. Das keinen Moment still ist. Das mir keine Sekunde der Ruhe gönnt. Emotionen, die so stark sind, dass es unmöglich scheint, aus ihnen heraus zu treten. Also lenke ich das, was da so passiert in eine produktive Richtung. Denke über Dinge nach, die (meiner Meinung nach), die Welt zu einem besseren Ort machen können. Gehe in jede Emotion rein und teile das, was ich dort entdecke in meiner Musik und meinen Texten.
Dafür mache ich alles, was ich mache. Jedes Gespräch, jedes Gefühl, jeder Gedanke. Jeden Moment, den ich lebe, lebe ich, um mich der Welt hinzugeben und meinen Teil dazu beizutragen, dass sie sich entwickeln kann.
Um die Welt der Emotionen, die zu lange im Dunklen gehalten wurde, sichtbar zu machen. Um zwei Welten zu verbinden, die zu lange gegeneinander angekämpft haben.
Also ziehe ich weiter. Also hänge ich mich rein. Verlasse die Komfortzone mit all ihren reizvollen Optionen, ihrer Sicherheit und ihrer scheinbaren Offensichtlichkeit.
Um dem Leben, den Menschen und mir in einer Wahrhaftigkeit zu begegnen, die man nur in der Ruhe der Natur finden kann.
 
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