«Nimm mich ernst»

«Nimm mich ernst»

Aug 22, 2025
«Nimm mich ernst!» schreit die Stimme in meinem Kopf schon seit vielen Jahren.
Es ist die Stimme der Ines, die jahrelang versucht hat, einen Platz in Systemen zu finden, die gar nicht ihr entsprechen.
Die versuchte, auf eine Art und Weise zu denken, zu sprechen und zu fühlen, die gar nicht aus ihr kamen, sondern die von außen als Norm vorgegeben wurde.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, dass das Problem genau darin lag: anstatt meinen Weg zu gehen, habe ich versucht, Wegen von anderen zu folgen. Ohne zu erkennen, dass diese nichts mit mir zu tun hatten.
Ich wünschte mir so sehr normal zu sein, dass ich gar nicht erkennen konnte, welche Chancen in meiner Unnormalität liegen könnten.
 

 
So, wie wir uns selbst begegnen, so begegnet uns auch unser Umfeld.
 
Nachdem ich in meinem Studium anfing, mir Ziele zu stecken, für die es wichtig war, dass mein Umfeld mich als Trompeterin und Person ernst nimmt, stand ich also vor der Frage:
Was hält mich davon ab, mich ernst zu nehmen?
 
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Was bedeutet es jemanden ernst zu nehmen?

Wenn ich mich ernst nehme bedeutet das, dass ich mir etwas zutraue. Dass ich der Meinung bin, dass mein Handeln Bedeutung hat. Dass ich meinem Können und meinem Sein mit Respekt begegne und mich nicht kleiner mache, als ich bin.
 

Was hat mich so lange davon abgehalten, mich ernst zu nehmen ?

 
  1. Arbeit im falschen Kompetenzbereich
Unsere Gesellschaft ist im Moment noch so aufgebaut, dass unser Bestreben zur Verbesserung auf E1 liegt und wir gar nicht erkennen, wie diese mit E2 verknüpft ist. (mehr dazu in dem Artikel «Entwicklung auf beiden Ebenen»)
Das kann durchaus gut funktionieren.
Für mich war das jedoch nicht der Fall. Es geht für mich also darum, emotionale Kompetenzen voll anzuerkennen, da meine Leidenschaften auf E2 liegen. Solange ich mich in erster Linie auf meine Schwierigkeiten in E1 konzentriere, anstatt meine Möglichkeiten in E2 als ebenso wichtig anzuerkennen, liegt mein Fokus auf meinem Mangel und nicht auf meinen Stärken.
 
  1. Fachkompetenz - Überblick
Der Fokus liegt in unserer Gesellschaft auf Fachkompetenzen. Wir lernen, uns zu spezialisieren und diesem einen Weg immer weiter zu folgen. Selbstverständlich sind diese Fachkompetenzen wichtig. Was uns jedoch fehlt sind Menschen, die den Überblick haben. Die Verbindungen erkennen und herstellen. Die Dinge verknüpfen, die scheinbar nicht zusammen gehören. Es gibt Menschen, die sind gut darin Details zu erkennen und es gibt Menschen, die sind gut darin, das Große Ganze zu erfassen. Keines der Beiden ist besser als das andere, aber beides ist wichtig.
 
  1. Respekt aufgrund von Kompetenz und Status
Nicht selten bestimmt fachliche Kompetenz darüber, wie ernst ich als Person genommen werde.
Das bedeutet, dass der Respekt, mit dem wir jemanden gegenüber treten, auf dessen Leistung basiert.
Mit diesem Denken begegnen wir jedoch nicht der Person, sondern der Rolle, die sie in diesem Spiel der Gesellschaft einnimmt. Gleichzeitig nehmen wir ihr die Möglichkeit, diese Rolle situationsweise auch verlassen können. Dies gilt ebenso für unsere Begegnung mit uns selbst.
 
  1. Emotionen werden als Schwäche angesehen
Es ist wichtig, dass wir unsere Emotionen ernst nehmen. Hierbei müssen wir ganz klar Handlung von Emotion unterscheiden.
Unsere Emotionen ernst nehmen bedeutet, sie sein zu lassen. Sie zu fühlen. Nicht gegen sie anzukämpfen und den Gedanken, die mit ihnen einhergehen zuzuhören. Um sie Stück für Stück auch zu verstehen und ihnen aus einer gewissen Distanz zu begegnen, von der aus sie kommuniziert werden können. Von hier aus liegt auch die Handlung in unserer Hand und ist nicht allein von unseren Gefühlen gesteuert.
Wir haben gelernt zu leisten und zu funktionieren. Unsere Gefühle (augenscheinlich!) zu kontrollieren.
Aber wir haben nicht gelernt zu fühlen.
Frauen wurden als hysterisch abgestempelt, Kinder zu Gehorsam und Funktionieren erzogen und Männer übten sich fleißig im Unterdrücken der Gefühle.
Ein ernst nehmen der Emotionen führt dazu, dass wir ihnen ein Raum geben. Der Mensch ist ein durch und durch irrationales Wesen. Unsere Handlungen werden aus unserem Unterbewusstsein bestimmt. Vermeiden wir eine Konfrontation mit unseren Gefühlen, bedeutet das, dass wir unser Leben von unserer Vergangenheit bestimmen lassen. Erst, wenn wir zuhören, schaffen wir eine Verbindung zwischen dem Bewusstsein und dem Unterbewusstsein.
Indem wir fühlen, gewinnen die Freiheit, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.
 

Die Menschheit gleich einem Pferderennen

 
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Es gibt die Pferde, die schnell und glänzend im Ziel ankommen.
In vielen Köpfen ist das Denken verankert, dass dies das Hauptbestreben sei. Lange und hartnäckig auch bei mir.
Es gibt Pferde, die erfüllt es, schnell und glänzend ins Ziel zu kommen und das ist super. Aber es gibt auch Pferde, die kommen dort in allem Glanze an und sind unglücklich.
Es gibt nämlich noch die Pferde, die vielleicht niemals ankommen, aber die Strecke mehr als alles andere genießen und damit ein Glück verbreiten, das alle ansteckt. Es gibt die Pferde, die andere motivieren, ins Ziel zu kommen. Es gibt Pferde, die spannende Sachen auf der Strecke entdecken, die wieder andere Pferde inspirieren können.
Ich gehöre eher zu den Mixpferden. Zwischen einem Sprint, tollen Entdeckungen, tagelangem kriechen ohne Pause und riesigen Umwegen ist alles möglich. Es kann sein, dass ich völlig verschmutzt und mit drei Beinen im Ziel ankomme, aber ich weiss, dass - solange es mein Ziel ist - ich dort ankommen werde und das mit einem Herzen voller Erfüllung und Glück.
Es gibt Millionen verschiedener Arten dieses Rennen zu bestreiten und es wichtig, dass uns bewusst wird, dass jede Einzelne ihre Richtigkeit und Wichtigkeit hat und ihren Respekt verdient. Das wichtigste ist, dass wir heraus finden, welches Pferd wir sind.
Nur so können wir ein Leben leben, in dem es nicht nur darum geht, zu überleben, sondern in dem wir jede einzelne Sekunde dieses Rennens ausschöpfen.
 

Tour

Tag 55. Ich weiss nicht warum oder auf was - aber ich bin heute wütend. Ich hatte gestern eigentlich einen super Tag. Ich bin gut voran gekommen. Die Steigungen haben mir gar nichts ausgemacht, mich eher noch motiviert. Ich hatte nette Gespräche und bin abends noch auf einem spannenden Cinéma Konzert gelandet. Auserdem habe ich meine zweite Nacht unter freiem Himmel verbracht, was könnte ich mir mehr wünschen !
 
Aber trotzdem brodelt heute eine undefinierbare Wut in mir, die bei der kleinsten Kleinigkeit aufflammt. Eine Wut, die meinen ganzen Körper einnimmt. Die jeden Muskel mit einem lauten NEIN durchströmt. Ich habe nur einen Berg zu überwinden. Ein Berg, der mittlerweile eigentlich kein Problem mehr für mich darstellt, aber heute erscheint er mir unmöglich. Alles in meinem Körper schreit danach stehen zu bleiben. Das Fahrrad hinzuschmeißen und zu schreien. Ohne ersichtlichen Grund.
 
«Nimm mich ernst» lautet der Titel von dem Artikel an dem ich seit ein paar Tagen schreibe.. Ok.. Dann nehme ich mich mal ernst. Genau so, wie ich gerade bin. Ich setze mich auf einen wunderschönen Aussichtspunkt am Strassenrand, den ich schiebend erreiche und mache nichts. Ich höre dem Brodeln der Wut zu. Lasse meine Gedanken laufen. Ich gucke in die wunderschöne bergige Kulisse der Ariège und bin wütend.
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Ich lasse die Bilder und Gedanken kommen und gehen, bis ich beschließe, dass es Zeit für eine Runde Kaffee und Croissant  in Mirepoix wird. Ein schöner und belebter Ort, den ich in einigen Kilometern erreichen sollte.
Eine halbe Stunde später sitze ich im Kaffe - von den Menschen abgewendet. Ich habe keine Lust mich zu unterhalten. Ich weiß gar nicht auf was ich Lust habe.. Schon nach kurzer Zeit fange ich das Schreiben an. Unterschiedliche Texte und Begegnungen, für die ich noch nicht die richtigen Worte finde. So sitze ich zwei Stunden zwischen nachdenken und schreiben da, bis ich mich wieder auf den Weg mache.
Ich bin langsam. Alle 5 Minuten bleibe ich stehen, weil mir Gedanken zu Texten kommen. Als ich beschließe jetzt mal ein bisschen anzuziehen, entdecke ich einen tollen Tunnel und übe eine Stunde Trompete, bevor ich wieder weiter krieche. So stehe ich eine Stunde später in Montbel und schaue ratlos auf den See. Ich wäge gerade all meine Essens-Bade-Optionen ab, da höre ich von hinten eine Stimme. «auf der anderen Seite ist es entspannter!» Ich drehe mich um und sehe einen ca 43 jährigen Mann und seinen 12 jährigen Sohn auf Mountainbikes.
«Und heute Abend findet ein Konzert da drüben statt. Freunde von mir spielen! Elektronische Musik, Saxophon».
Vince kommt aus der Gegend und macht mit seinem Sohn einen Kurzausflug mit Camper und Mountainbikes. Kurzerhand beschließe ich heute nicht mehr Strecke zu machen und stattdessen mein Zelt hinter ihrem Camper aufzuschlagen.
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Zwei Stunden später tanze ich auf einem tollen Konzert am Seeufer. Während meine Gedanken im Hintergrund weiterplätschern, verliere ich mich dankbar in meinen Bewegungen zur Musik und begreife, dass Tage wieder dieser genau so wichtig sind, wie die Tage, an denen ich Kilometer mache.
 
 

 
Meine Flut an Emotionen und Gedanken beschließt immer mal wieder mich in einer derartigen Intensität zu überfahren, dass ich mir beim Trompete spielen eher wie eine passive Beobachterin vorkomme, als wie eine Trompeterin. An diesen Tagen kommt aus diesem Instrument kein guter Ton raus. Und wenn, bekomme ich es nicht mit.
Für mich scheint dies wohl ein Teil der Sache zu sein. Tage an denen ich Denke, Fühle und schreibe. An denen die Trompete in den Hintergrund rutscht, um Platz für etwas zu machen, dass gerade danach ruft, gehört zu werden.
Und dann gibt es wieder Tage, an denen ich klar bin. Ich kriege meinen Alltag sortiert, übe, spiele und organisiere noch fünf andere Sachen.
 
Beides hat seine Berechtigung.
 
Das Denken unserer Gesellschaft ist von Leistung und Funktionalität geprägt.
Für mich geht es darum, neben dem Leistungsstreben auch meiner Emotionsflut einen Raum zu geben.
 
Meinem Herzen zuzuhören und es ernst zu nehmen.
 
Nur so finde ich das, was ich in meiner Musik und meinen Worten ausdrücken will.
 
Nur so finde ich meinen Platz in dieser Welt.