Isaac

Isaac

Jul 16, 2025

Luft - Feuer

Tag 15. Ich bin heute nicht sehr fahrmoriviert.
Es ist extrem windig. Eine kurze Zeit habe ich ihn im Rücken und ich wunder mich wie leicht ich plötzlich voran komme, da wendet sich das Blatt.
Ich befinde mich in einer wunderschönen weiten Landschaft. Links und rechts sind weiten Seen, dahinter erstreckt sich Meer. Es ist ruhig hier und wenn ich mich mal kurz nicht auf den Wind konzentriere, entdecke ich viele verschiede Vögel umherfliegen.
notion image
 
Nun peitscht mir jedoch weiterhin der Wind um die Ohren, wobei er mich sekündlich abwechselnd von vorne und von rechts zu erdrücken versucht. Ich liebe die Kraft, die Wind mit sich bringt. Jedoch nicht, wenn ich versuche Fahrrad zu fahren.
So fahre ich nun meine schwer zu kontrollierenden Schlangenlinien, in dem eisernen Versuch voran zu kommen und dabei zumindest nicht von den beiden Fahrradspuren abzukommen, wobei ich eh schon die Gegenspur fleißig mit nutze.
Da kommt von hinten ein Fahrradfahrer angefahren, ca 25 Jahre alt. Er ist bestimmt an die 2 Meter groß und entsprechend groß ist auch sein sportlich bepacktes Gravelbike. Er hat wenig Gepäck und alles ist überaus ordentlich an sein Fahrrad geschnallt.
« Hellooo, how are you? » quatscht er mich freudig an. Verdutzt schaue ich aus meinem Kampf hoch. Der Wind scheint ihm überhaupt nichts auszumachen.
Wir kommen schnell ins Gespräch. Ich freue mich zwar total, mal einem Bikepacker in meinem Alter zu begegnen, aber struggle doch ziemlich, gleichzeitig ein Gespräch und diesen Wind zu händeln. Während jedes Zweites Wort von mir « whaat? » ist und ich weiter meine Schlangenlinien fahre, frage ich mich, ob er überhaupt merkt, wie windig es gerade ist.. Wir gleichen einem fetten betrunkenen Esel, der von einem sportlichen, erhabenen Schimmel begleitet wird.

Isaac studiert in Amsterdam, arbeitet nebenher in einem Fahrradladen und macht gerade eine Tour nach Spanien. Er erzählt mir, dass er am Tag gut an die 120km zurück legt. Ich frage mich, wie sehr er wohl gerade sein Tempo drosseln muss, um neben mir her fahren zu können..

Isaac ist perfekt organisiert. Das Ziel steht. Er ist seit 10 Tagen unterwegs und jeder Tag läuft ungefähr gleich ab. Er hat Routinen, die ihm helfen, möglichst gut voran zu kommen. Ausserdem sitzt auf seinem Lenkrad ein schickes Navigationsgerät, in das er jeden Abend die Route eingibt. So genieße ich es, für eine Zeitlang die Navigation abgeben zu können. Bei mir ist das immer ein:
Handy raus - Weg checken - Handy rein - oh, der Baum sieht aus wie ein Gefühl, das ich kenne - Handy raus - Foto - Handy rein - oh, ein schöner Ort - Pause, Trompete - weiter - wo muss ich eigentlich lang? - Handy raus - ach, nur geradeaus - Navigation aus um Akku zu sparen - oh, eine Abbiegung? - Navigation an - Handy ans Lenkrad klemmen - Akku sparen, Handy weg - wo geht es nochmal lang? - Handy raus - weiter fahren - Gedanken zu irgendeinem Thema - stehen bleiben - Handy raus - aufschreiben - Handy rein - weiterfahren…..
 
Isaac ist in seiner Art genau so klar, wie in seiner Organisation. Ich tue mir schon schwer, mich gleichzeitig auf quatschen, Straßenverkehr und freundlich-entschuldigende Blicke zu den Autofahrern zu konzentrieren. Währenddessen gibt mir Isaac ganz klare Anweisungen für jede Abbiegung und lässt sich von keinem einzigen Auto beirren.
Dennoch ist es zu zweit deutlich einfacher voran zu kommen und die Multitasking Herausforderung bietet mir genug Abwechslung, dass die Strecke im Wind ein bisschen schneller vergeht.

So kommen wir in Sète an und ich habe damit meinen Host für diesen Abend erreicht (Warmshowers app, über die FahrradfahrerInnen sich gegenseitig beherbergen können, sehr zu Empfehlen, falls man doch mal duschen will).
Isaac plant noch gemütlich 20 km weiter zu fahren und sich dann langsam einen Schlafplatz zu suchen.
Freudig tauschen wir Kontakte aus, verabschieden uns und ich grübel über sein Tourerlebnis nach.
notion image
 

 
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass seine Tour wahrscheinlich das Gegenteil von meiner ist, wobei beide natürlich ihren eigenen Reiz und ihre eigenen Herausforderungen haben.
Sein Ziel ist klar und jetzt geht es darum, dieses Ziel zu erreichen. Punkt. Hierfür braucht er eine Klarheit und Durchsetzungskraft, um konsequent voran zu kommen. Ich finde es unglaublich beeindruckend, wenn man es schafft, für die Leistung seine Gedanken so zu kanalisieren, dass man jetzt. Funktioniert. Komme was wolle.
notion image

 
Nicht selten fühle ich mich wie ein wandelndes Chaos und zweifle somit ständig an der Berechtigung meiner Pläne.

In der Begegnung mit Isaac ist mir klar geworden:
Ich BIN ein wandelndes Chaos.
Meine Pläne entstehen von Tag zu Tag und können sich minütlich ändern. Je nachdem wen und was ich so treffe oder wo es mich plötzlich hin oder wegzieht. Ich habe keine Routinen und wenn sich doch mal eine einschleicht, funktioniert das am vierten Tag schon nicht mehr, weil doch wieder alles anders ist. Jeder Tag ist anders. Mal radel ich mehr, mal spiel ich mehr Trompete, mal schreibe ich mehr oder ich treffe irgendwelche Leute und verbringe Zeit mit ihnen. Mal esse ich vier mal am Tag und mal lasse ich das Abendessen aus, weil ich mit der Suche nach einem gut versteckten Schlafplatz beschäftigt war.
 
notion image
 
Und genau darum geht es. Etwas Neues kann ohne Chaos gar nicht entstehen. Um einen neuen Weg einzuschlagen, für den es noch keine Anleitung gibt, muss alles mögliche erkundet werden. Nur so kann am Ende etwas entstehen, dass es zuvor noch nicht gab.
Weder auf der Tour, noch in meinen künstlerischen Plänen, weiß ich den Weg.
 
Also habe ich keine andere Wahl, als mich jedem Moment hinzugeben, mich immer und immer wieder auf die Suche zu machen und einzusehen, dass keine Erfahrung verschwendet ist, weil uns jeder Umweg etwas lehrt.
Sei es für das Leben oder für die Kunst. Jede Erfahrung, die wir machen, jeder Erfolg und jeder Misserfolg, jedes Hoch und jedes Tief machen uns aus. Spiegeln sich in unseren Worten, Taten und Gedanken wieder. Zeigen sich in unseren Werten, Zielen und Träumen. Jede kleinste Erfahrung kann uns in unserem Tun beeinflussen.

Also bin ich weiter ein wandelndes Chaos auf zwei Rädern und zögere nicht, mich dem, was auf mich zukommt, mit allem, was ich habe und bin, hinzugeben.
 

 
Wir brauchen Menschen, die sich bestehendem widmen. Die all ihr Herzblut investieren, um etwas bereits existierendes zur Gänze zu erfüllen.
Und wir brauchen Menschen, die um 10 Ecken denken, 5 Umwege gehen und dabei Dinge entdecken, die vorher keiner so gesehen hat.
 
notion image
 
Wenn wir es schaffen, das Nebeneinander existieren oder sogar miteinander kooperieren zu lassen, erschaffen wir eine Welt, die für jede Veränderung bereit ist und nicht zögert, weiter zu gehen.